Altshausen, eine kleine Gemeinde nördlich der oberschwäbischen Kleinstadt Ravensburg. Hier wurde Gustav Mesmer am 16. Januar 1903 geboren, als sechstes von zwölf Geschwistern.
Durch einen unglücklichen Zufall wurde Mesmer 1929 in die Psychiatrie eingeliefert. Seine Isolation sollte insgesamt 35 Jahre dauern. Sein Traum, aus eigener Kraft von Dorf zu Dorf fliegen zu können, rettete ihn über diese lange Zeit.
Heute bewundern Zehntausende die Erfindungen und Ideen Gustav Mesmers, der 2003 im Januar 100 Jahre alt geworden wäre. Ein Nachruf auf einen genialen schwäbischen Tüftler, Künstler und Erfinder.
Der Erste Weltkrieg setzt der Schulausbildung des Gustav Mesmer ein jähes Ende. Als 12-Jähriger wird er nach der 5. Klasse aus der Schule entlassen. “Wo die Schule versagt”, schreibt er später, “geht das ganze Leben einen Nebenweg”. Schon früh arbeitet Gustav auf verschiedenen Bauernhöfen, um während des Krieges wenigstens etwas Ordentliches zu essen zu bekommen. Bei der Arbeit in der Ökonomieabteilung des Klosters Untermarchtal redet man ihm ein, doch in ein Kloster einzutreten. In seiner Biografie vermerkt er dazu rückblickend: “Durch die Schwestern dort wurde ich angestiftet, ein Ordensmann zu werden. Sie sagten, ich gäbte so ein schönes Päterchen. Ich wählte unüberlegt das weltbekannte Benediktinertum Kloster Beuron. Man muss schon als Kandidat ein Schriftstück unterzeichnen, dass man alles gibt und tut um Gottes Hort. Anspruchslos auf Lohn und Vergütung, Krankheits- oder Lebensversicherung. Da kann nur ein Lebensunerfahrener hereinfallen wie ich.” Fast sechs Jahre verbringt er als Bruder Alexander im Kloster Beuron.
Kurz vor Ablegung der heiligen Gelübde muss Mesmer das Kloster verlassen. Mit dem Alltag dort, erzählt er später, sei er nicht zurecht gekommen. Mesmer geht wieder nach Altshausen zurück, zu seinen Eltern. 1928 beginnt er in seinem Heimatort eine Schreinerlehre. Sein Meister stellt ihm ein gutes Zeugnis aus, aufgefallen sei allerdings “sein eigenes und stilles Wesen”. Der 17. März 1929 sollte dann das Leben Mesmers entscheidend ändern.
Wohl noch beeinflusst durch seine Klosterzeit störte er die Konfirmationsfeier in der evangelischen Kirche in Altshausen. Dort soll er mehrmals laut erklärt haben, dass hier nicht das Blut Christi ausgeteilt werde und sowieso alles Schwindel sei. Mesmer wird daraufhin gewaltsam aus der Kirche geführt und zu seinen Eltern gebracht. Doch wohin mit dem Gustav? War er nicht schon immer ein komischer Sonderling gewesen, ein eigenartiger Kauz? 14 Tage nach diesem Vorfall verfasst der Hausarzt der Familie Mesmer einen Bericht, in dem es über Gustav heißt: “Es ist wohl nicht ausgeschlossen, dass er sich oder anderen etwas antut, wie ich auch dieses Verhalten als Ausdruck einer Angst- oder Verfolgungswahnvorstellung ansehe”. Angeblich hat sich Gustav mehrfach in sein Zimmer eingesperrt und einmal einen Holzprügel gegen die verschlossene Türe geworfen. Elf Tage nach dem Zwischenfall in der Kirche wird er in die Heilanstalt Schussenried eingeliefert. Diagnose beim Eintritt: “Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen.” Mesmer hofft, bald wieder entlassen zu werden und schreibt seinen Eltern, dass sie sich dafür einsetzen sollen. Da keine Antwort kommt – er weiss nicht, dass seine Briefe von der Anstaltsleitung zurückbehalten werden – bricht er aus der Anstalt aus und läuft nach Altshausen. Von dort wird er von den Eltern wieder zurückgeschickt. Denn das Wohlfahrtsamt droht ihnen, dass wenn im Falle der Herausnahme Gustavs aus der Anstalt nur das Geringste mit ihm passiere, es nicht mehr für die Kosten aufkommen würde.
“Das ist kein Leben mehr”, schreibt er 1931 an seine Eltern, “habe lange für mein Predigen gebüsst, oder bin ich des Todes schuldig?” Bald merkt Mesmer, dass an eine schnelle Heimkehr nicht zu denken ist und er fügt sich vorübergehend in sein Schicksal. In Schussenried wird er in der Buchbinderei beschäftigt und gilt als tüchtiger Arbeiter. Am 10. Oktober 1932 taucht folgende Notiz in seiner Krankenakte auf:
“Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab“. Nach seinen Erzählungen hat Mesmer in der Anstalts-Buchbinderei eine Illustrierte gelesen, in der über einen Österreicher und einen Franzosen berichtet wurde, die mit einem Fahrrad fliegen wollten. Das habe ihn inspiriert und nicht mehr losgelassen. Der Gedanke ans Fliegen beschäftigt Mesmer seitdem ununterbrochen. Er zeichnet und bastelt Flugmodelle in allen Variationen. “Ist guten Humors”, so ein lapidarer Aktenvermerk, und: “zeichnet immer wieder neue Flugprojekte, über welche schon der Laie den Kopf schüttelt”. Seit Jahren eingesperrt, bleibt Mesmer nur seine Fantasie, die ihn über die Anstaltsmauern hinausträgt, in die Freiheit. Und er will nach Hause. In mehreren Briefen an seine Familie äußert er diesen Wunsch.
Er träumt von einem normalen Leben, von einer eigenen Familie. Seine Mutter fragt er, ob er “nach einer Braut schauen” dürfe. Er bekommt keine Antwort, weil sein Brief vermutlich auch dieses Mal zurückbehalten wurde. Er schreibt deshalb an die Tochter eines Pflegers: “Ob Sie, wertes Fräulein, Lust und Liebe, meine Gattin werden zu wollen?” In der Anstalt nennen sie Mesmers Wünsche und Hoffnungen “Beziehungsideen”. Man nimmt den Patienten Mesmer nicht ernst, lacht über ihn. “Infantiler Charakter”, heißt es in der Krankenakte, von “Erfinderwahn” ist mehrmals die Rede. In den späten 30er Jahren bricht Mesmer insgesamt 16 mal aus, streift durchs Oberland oder läuft nach Hause. Er wird häufig zurückgeschickt, doch einige Male begibt er sich auch wieder freiwillig zurück nach Schussenried.
Einmal ist er vierzehn Tage lang auf der Flucht, arbeitet als Tagelöhner auf Bauernhöfen und träumt von einer bürgerlichen Existenz. Ohne Erfolg, seine kurzen Ausflüge enden immer wieder hinter den Mauern der Anstalt. Im Januar 1934 trat das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” in Kraft. Das war der erste Schritt der Nationalsozialisten zur späteren Vernichtung der Kranken in den Anstalten. Auch in Schussenried wurden in der Folgezeit meist entlassungsfähige Patienten zwangssterilisiert. Mesmer blieb davon verschont, denn von Entlassung war bei ihm keine Rede. Doch was damals vor sich ging, war den meisten Patienten durchaus bewusst. Bei Ausbruch des Krieges wurde die ehemalige Samariter-Stiftung Grafeneck von den Nazis zum Vernichtungslager umgebaut. Von Februar bis Dezember 1940 wurden dort über 10 000 kranke Menschen, für die die Nationalsozialisten den Begriff „unwertes Leben“ prägten, in den Gaskammern getötet.Schussenried war mit eine Durchgangsstation in den Tod. Gustav Mesmer hatte Glück: er stand auf keiner Transportliste. Weil er ein guter Arbeiter war, sorgte die Anstaltsleitung dafür, dass er bleiben konnte. Bei Kriegsende, auch in der Anstalt herrschte das totale Chaos, nutzte Mesmer die Gelegenheit zur Flucht und läuft nach Hause. Zwei Monate kann er bleiben, aber bereits im Juni 1945 muss er wieder in die Anstalt zurück, da in der schwierigen Zeit nach Kriegsende im Hause Mesmer durch die Einquartierung mehrerer Personen beengte Verhältnisse herrschen. In der Anstalt weiß Gustavs Mutter ihn wenigstens versorgt.
Mesmer fügt sich, was bleibt ihm auch anderes übrig? Er lernt die Korbflechterei, zeichnet, dichtet, schreibt und bastelt weiter an seinen Fluggeräten. 1949 wird er auf eigenen Wunsch in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Weissenau verlegt. Überführungsdiagnose wie schon Jahre zuvor: „Paranoide Schizophrenie“. In Weissenau bekommt Mesmer mehr Freiheiten, findet sogar langsam ein wenig Anerkennung.
„Auffallend die zeichnerische Begabung“, ist in der Krankenakte zu lesen. Doch mehr denn je drängt er in den fünfziger Jahren auf Entlassung, will eine Korbmacherei eröffnen und eine Familie gründen. Doch niemand setzt sich für ihn ein, obwohl längst klar ist, dass Mesmer in einer psychiatrischen Anstalt nichts zu suchen hat. 1962 schreibt er seine Biografie mit dem Titel: „Von einer Person, deren Lebensweg durch Orden wie psychiatrisches Krankenhaus führte“. 1964, also 35 Jahre nach seiner Einlieferung, wird Gustav Mesmer aus der Anstalt Weissenau entlassen. Die letzte Bemerkung in seiner Krankenakte lautet: „Auf Betreiben der Verwandten in Rottenburg wurde der Patient heute nach Buttenhausen verlegt, da dort gerade ein Platz frei war. Seine Wahnerlebnisse kommen lediglich in Briefen oder sonstigen Schreiben zum Vorschein, sie scheinen an Bedeutung für ihn verloren zu haben“.
Buttenhausen, ein kleiner Ort auf der Schwäbischen Alb. Hier, in einem Heim, verbringt Mesmer die letzten, aber wohl auch die glücklichsten Jahre seines Lebens. Als Korbmacher hatte er eine kleine Werkstatt und konnte endlich ungehindert an seinen Flugideen basteln. Niemand redet ihm drein, bevormundet oder verspottet ihn. Und die Kreativität Mesmers ist schier unerschöpflich. Was er vor allem in den letzten Jahren seines Lebens gezeichnet, konstruiert und gebaut hat, ist kaum überschaubar. Mit einem seiner Fluggeräte, einem umgebauten Damenfahrrad, sorgte er für Furore auf der Schwäbischen Alb. Sonntags machte er oft seine Flugversuche und donnerte mit seinem Flugfahrrad steile Wege hinunter. Die Bevölkerung nennt ihn bald liebevoll den „Ikarus vom Lautertal“. Er gehört dazu, wird zum ersten Mal in seinem Leben vorbehaltlos akzeptiert und bewundert. Ab Anfang der 80er Jahre kamen Freunde von Mesmer auf die Idee, seine Erfindungen und Kunstwerke einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Ausstellungen, unter anderem in Wien, Mannheim, Lausanne und Ulm wurden überall begeistert aufgenommen. Den absoluten Höhepunkt seiner späten Karriere erlebte Mesmer 1992. Eines seiner Flugfahrräder stand auf der Weltausstellung in Sevilla im Deutschen Pavillon. Thema dort: „Der Traum vom Fliegen“. Ein Jahr später kehrte Gustav Mesmer endgültig in seine Heimatgemeinde Altshausen zurück. 64 Jahre nach dem Kirchenvorfall und der Einweisung in die Psychiatrie. In einer großen Ausstellung wurde gezeigt, was der „Ikarus vom Lautertal“ in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat. Eine späte Rehabilitierung des mittlerweile anerkannten Erfinders und Künstlers. Und was ihn dabei besonders freute: Auf der Ausstellungs-Einladung stand –
Gustav Mesmer: Flugradbauer von Altshausen.
Ob er denn wirklich mal geflogen sei mit einem seiner Fluggeräte, wurde er öfter gefragt. Ja, antwortete er verschmitzt, einmal habe es ihn fast 50 Meter ins Tal hinunter getragen, aber leider sei niemand dabei gewesen. Weihnachten 1994, kurz vor seinem 92. Geburtstag, ist Gustav Mesmer gestorben.
Autor: Holger Reile, Konstanz